Müde, gereizt, ausgelaugt: Besonders in der Corona-Krise können finanzielle Sorgen, soziale Distanzierung und die Doppelbelastung aus Homeoffice und Kinderbetreuung eine mentale Herausforderung sein.
Zu viel und zu plötzlich: COVID-19 kam unerwartet. Bedrohliche Situationen, die wir nicht vorhersehen und lenken können, setzen unseren Körper unter enormen Stress. Reicht das Kurzarbeitergeld? Wann kann ich meine Eltern besuchen, und wie hoch ist das Risiko, sie anzustecken? Wann öffnen Kitas und Schulen wieder für alle Kinder?
„Vor allem die unsichere zeitliche Perspektive und die vielen sozialen Veränderungen in unserem Alltag sind eine große Belastung. Homeschooling, finanzielle Sorgen, Alleinsein: Wir mussten von heute auf morgen sehr schnell neue Abläufe und Routinen finden und wissen immer noch nicht, wann alles wieder ganz normal sein wird“, sagt Dr. Udo Wortelboer, Facharzt für Psychiatrie und Psychologie. Seit 2015 beschäftigt er sich intensiv mit dem Thema psychische Gesundheit in der Arbeitswelt und berät Führungskräfte sowie Teamleiterinnen und Teamleiter in Unternehmen. „Je länger Stress andauert, desto mehr sinkt die kognitive Leistung des Mitarbeiters. Schuld daran ist das Hormon Cortisol, das bei Stress in großen Mengen ausgeschüttet wird. Gibt es keine Erholungspausen, kann es die Gehirnzellen angreifen, und in der Folge nehmen Erschöpfungszustände, Niedergeschlagenheit und Gedächtnisstörungen zu.“
Drei Monate früher zurück an den Arbeitsplatz durch frühe Intervention
Unser Gesundheitssystem bietet im Hinblick auf die psychische Gesundheit allerdings kaum präventive Angebote. Wer einen Therapieplatz sucht, muss drei bis sechs Monate darauf warten. “Klinische Erfahrung und wissenschaftliche Daten zeigen aber, dass die Dauer bis zum Beginn einer Behandlung ein wesentlicher Faktor für den weiteren Verlauf der Krankheit ist. Das heißt, je früher eine erkrankte Person in Behandlung ist, umso besser stehen ihre Chancen auf Heilung”, weiß Wortelboer. Eine Auswertung aus 16 Studien hat die enormen Effekte einer frühen Intervention auf das psychische Wohlempfinden der Beschäftigten bestätigt.1
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, denen psychologische Hilfe von ihren Arbeitgebern angeboten wurde, sind im Durchschnitt 91 Tage früher an den Arbeitsplatz zurückgekehrt.2 Für Arbeitgeber bedeutet das, dass sie mit präventiven Unterstützungsmaßnahmen Fehlzeiten und Komplettausfälle ihrer Beschäftigten verhindern können.
Anzeichen bei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern frühzeitig erkennen
„Wenn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sonst lebendig und sehr gesellig waren, plötzlich ruhig und verschlossen sind, dann sollten Führungskräfte genauer hinschauen“, rät Wortelboer. „Gibt es noch weitere Anzeichen und Veränderungen, die auf eine psychische Belastung hindeuten? Erledigt der Betroffene seine Aufgaben noch so gut wie zuvor? Oder ist er plötzlich unzuverlässig und verpasst sogar Telefontermine? Teamleiterinnen und Teamleiter, die während der Krise mit ihren Beschäftigten nur telefonieren, sollten auf die Stimmlage achten. Hat sie sich verändert und klingt bedrückter? Das alles können Anzeichen sein, dass die Person unter Stress steht“.
Ansprechen, aber keine Diagnosen stellen
Führungskräften, die Veränderungen und Belastungen bei Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern wahrnehmen, rät der Führungskräfte-Coach so schnell wie möglich ein offenes Gespräch mit den betroffenen Personen zu suchen. „Dabei ist es wichtig, neutral zu bleiben und keine psychologischen oder medizinischen Diagnosen zu stellen. Führungskräfte sollten nur das ansprechen, was sie wahrnehmen, wie zum Beispiel: Du bist gestern im Webinar sehr laut geworden. Das kenne ich gar nicht von dir. Was hat dich denn betroffen? Dabei kann es durchaus helfen, zu fragen: Was ist dein Bedürfnis? Was erwartest du von mir als Führungskraft und wie kann ich unterstützen?“.
Bevor Führungskräfte eine Mitarbeiterin oder einen Mitarbeiter auf ein verändertes Verhalten ansprechen, sollten sie laut Wortelboer folgende Fragen für sich beantworten:
• Gibt es organisatorische, inhaltliche oder hierarchische Faktoren, die eine Veränderung bei der Mitarbeiterin oder dem Mitarbeiter erklären können?
• Könnten Kolleginnen und Kollegen aus dem Team unterstützen?
• Ist es gut, wenn ich das als Führungskraft anspreche? Welches Verhältnis habe ich zu der Person, und wie viel Vertrauen ist da?
• Wie kann ich als Führungskraft helfen?
• Haben wir Hilfen und Personen im Unternehmen, wie z. B. eine Beschäftigtenberatung oder ein Employee Assistance Program EAP, das die Mitarbeiterin oder der Mitarbeiter nutzen kann - wie beispielweise ein Stressmanagement oder eine Konfliktberatung bei privaten und beruflichen Problemen?
Vier Tipps für Führungskräfte zur Kommunikation auf Distanz in Krisenzeiten von Dr. Udo Wortelboer
1. Vermitteln Sie Sicherheit und seien Sie transparent
Wichtig ist, dass Sie als Führungskraft nicht um den heißen Brei reden. Seien Sie klar und realistisch. Fahren Sie auf Sicht und gehen Sie nur auf Probleme ein, die absehbar sind. Versprechen Sie nichts, was Sie nicht einhalten können. Reden Sie Probleme aber auch nicht klein. Überlegen Sie sich genau, was Sie Ihrem Team mitteilen wollen.
2. Wer sind Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter? Nehmen Sie private Umstände in den Blick
Wer ist Ihre Mitarbeiterin oder Ihr Mitarbeiter? Gibt es Faktoren auf persönlicher Ebene, die vor allem jetzt in der Krise schwierig sein könnten. Wie ist die Wohnsituationen Ihrer Beschäftigten? Wer hat Familie, wer lebt alleine? Wer wohnt in der Stadt und wer auf dem Land mit großem Garten? Fragen Sie Ihre Beschäftigten auch, wie es ihnen geht und ob sie noch etwas brauchen, um im Homeoffice besser arbeiten zu können.
3. Ersetzen Sie die fehlende analoge Kommunikation durch digitale
Prüfen Sie auch auf beruflicher Ebene, ob sich etwas verändert hat, was eine Belastung für einzelne Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sein könnte: Arbeitet Ihr Team schon immer virtuell? Oder sind diese Strukturen jetzt völlig neu? Ist das eine neue Art zu arbeiten? Dann ist es wichtig, die fehlende analoge Kommunikation durch eine digitale zu ersetzen und regelmäßige kurze Teambesprechungen zu organisieren. Am besten per Webinar mit Video, so dass sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sehen können. Auch eine digitale Kaffeerunde, um über Privates zu sprechen, kann für viele die fehlende „echte“ Kommunikation von Angesicht zu Angesicht ersetzen und die Teamstruktur aufrechterhalten.
4. Motivieren Sie Ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, neue Techniken auszuprobieren
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die sich mit virtueller Kommunikation und neuen technischen Tools schwertun, sollten an die Hand genommen werden. Nicht alle Menschen gehen mit Veränderungen gleich um. Warum sollte Bewährtes aufgegeben werden, wenn es doch immer funktioniert hat? Nehmen Sie unsicheren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ihre Bedenken, indem Sie ihnen in Ruhe zeigen, wie beispielsweise ein Webinar funktioniert und welchen Nutzen es hat.
Weitere Informationen
Quellen
1Nigatu, Y.T., et al. (2019): Indicated Prevention Interventions in the Workplace for Depressive Symptoms: A Systematic Review and Meta-analysis: American Journal of Preventive Medicine 56(1): e23-e33.
2Reifferscheid, A., ett al. (2019): Rückkehr an den Arbeitsplatz nach depressiver Erkrankung - Evaluation einer retrospektiven Fall-Kontroll-Studie eines betriebsnahen integrierten Versorgungsmodells. Fortschr Neurol Psychiatr 87(02):121-127.